Die Geschichte der Stadt Halle kennenlernen, war die Aufgabe, die sich Schülern des Produktiven Lernens der Heinrich-Heine-Gemeinschaftsschule stellten. Doch als ob das nicht schon genug wäre, sollte das Projekt auch gleichzeitig Eingang im bundesweiten Geschichtswettbewerb finden. Dabei wurden die Schüler gerade erst zu einer 8. Klasse des Produktiven Lernens aus verschiedenen Schulen neu zusammengewürfelt, so dass sie sich kaum kannten und von der Geschichte der Salzstadt Halle „Null“ Ahnung hatten. Ihr Lehrer, Vorsitzender des Freizeit- und Kreativvereins „Salzstadtclan e.V.“, hatte es sich aber in den Kopf gesetzt, ihnen etwas über die Geschichte der Stadt Halle beizubringen.
Im Produktiven Lernen kommen Schüler zu einem zweijährigen „Lehrgang“ zusammen, wo sie an zwei Tagen in der Schule sind und an drei Tagen an einem Praxisplatz arbeiten. Es sind Schüler die negative Erfahrungen in der Schule hatten, Schulschwänzer wurden, aber auch einige mit starken sozialen Problemen oder die einfach keinen Abschluss bekommen würden. Manche sind auch von sich aus nur schwierig.
Zwei Lehrer decken den gesamten Unterricht ab und kümmern sich während der Praktikumszeit um die Schüler. Um ins Produktive Lernen zu kommen, müssen die Schüler eine sechswöchige Orientierungsphase als 8. Klasse absolvieren, wo dann Schüler und/oder Lehrer entscheiden, ob sie die zwei Jahre bleiben können, um später in der neunten Klasse den Hauptschulabschluss zu erreichen. Es gibt keine Noten, nur auf dem letzten Abschlusszeugnis haben die Schüler Noten. (Ich verzichte hier mal bewusst auf das Gendern, das verstehen diese Schüler nicht, von mir ganz zu schweigen.) Keiner der Schüler hat genau den identischen Lernplan, da individuell gelernt wird.
So gibt es das Fach Lernbereich, dass die Fächer Bio, Che, Phy, Ge abdeckt, indem die Schüler Themen bekommen, die sie in einem Trimester bearbeiten und letztendlich in einer Präsentation vorstellen müssen. Um diese Individualität zu lernen, bekommen die Schüler im ersten Trimester (ein Schuljahr besteht aus drei Trimestern) ein Thema vorgegeben und müssen es dann so weit wie möglich selbstständig gestalten. So können sie dann, so ist der Plan, in weiteren Trimestern an ihren selbstgewählten Themen aus den genannten Fächern, einschließlich Sport, Kunst, Musik mit unserem Handwerkszeug Themen bearbeiten, Dokumentationen erstellen und auch in freier Rede vorstellen. Natürlich klappt das am Anfang fast gar nicht und der Lehrer muss immer wieder eingreifen, um dann festzustellen, wie schwer dieses und jenes den vom Lernen entwöhnten Schülern fällt. So weit, so gut und in aller Kürze.
Unser vorgegebenes Thema 2022 hieß nun „Die Geschichte der Salzstadt Halle im Mittelalter“. Für Jugendliche, die so etwas noch nie gemacht hatten und schon gar nicht in dieser Form, die es gewohnt waren, Schulen als überbrückte Pause zwischen Aufstehen und Party zu sehen, war das eine ungeheure Aufgabe. Plötzlich wurden sie konfrontiert mit Dingen, die so gar nicht ihren Interessen oder Erlebnisbereichen entsprachen. Das Händeldenkmal kannten sie, von dem Mann nichts, einige stellten ihn sogar auf den Hallmarkt. Halle ist eine Salzstadt? Ach so, im Winter, wenn man Salz streut. Halloren gibt es als Schokolade, aber was ist eine Brüderschaft? Halles Geschichte scheint im Unterricht keine Rolle zu spielen.
Also lernten sie, wie man an die Sache rangeht, durch Brainstorming, also erstmal aufschreiben, was einem von Halle einfällt. Da war von Gewalt, hässliche Stadt, Nichts-los, Party die Rede – das Blatt blieb bei vielen der 21 Schülern auffallend leer. Nun hakte der Lehrer nach, es füllte sich langsam aber sicher. Jetzt galt es zu sortieren, ein Masterplan entstand, in der Methodik . Es wurde eine Mind Map erstellt über das Thema mit Hilfe des Schülerbuches “Die Salzmagd erzählt von der Salzstadt Halle (Saale)“ des MSW-Welten Verlages. So entschied sich jeder Schüler für ein Objekt oder Gebiet innerhalb der ehemaligen Stadtmauer, das er bearbeiten musste, ob Stadtmauer, Hallmarkt, Alter Markt, Dom, Burg Giebichenstein usw. Mit einigen Schülern, die sich schon früh als etwas fähiger herauskristallisierten, wurde über das Geschichtsprojekt gesprochen und ihre mögliche Beteiligung. 6 Schüler waren dazu bereit, aber nur, wenn sie sich „nicht blamierten“. Mutig war das schon, so aus dem Nichts heraus.
Was sich hier schön glatt anhörte, war eine Mammutaufgabe für den Lehrer, da fast jeder Schüler ein anderes Thema hatte und erstmal der Weg erarbeitet werden musste, um die Informationen aus dem Schülerbuch und dem Internet aufzuarbeiten. Schwierig war es insbesondere für die Schüler gedanklich ein paar Jahrhunderte zurückzugehen, da in ihren handyverwöhnten Gehirnen nur schwer zu begreifen war, dass es damals die heute gewohnte Umwelt so gar nicht gab. Da wurden die Gesichter schon mal lang, wenn es wieder hieß, so stimmt das nicht, dass musst du nochmal machen, bitte die Bilder beschriften, zieh einen Rand, Bilder nicht über den Rand kleben, du kannst das Papier vorne und hinten beschriften, das Bild vom Roten Turm passt nicht zum Eselsbrunnen und vieles mehr. Dinge eben, die nicht in ihrem Selbstverständnis lagen. Die Bilder suchten sie sich aus dem “Kleinen Halle-Lexikon” im Internet heraus und speicherten sie in ihrer persönlichen Cloud (die der Lehrer für sie einrichtete).
So wurde also kontinuierlich an der Umsetzung des Projekts von September bis Dezember gearbeitet und jeder! Schüler hatte eine Präsentation und ein Plakat mit seinem persönlichen Inhalt oder Unterpunkt zum großen Thema „Halle-eine Salzstadt“ zusammengestellt. Das Produktive Lernen leidet nicht unter dem 45-minütigen Zeitdruck einer Schulstunde, sondern arbeitet sehr persönlich, angepasst an die Fähigkeiten der Schüler. Die Inhalte waren dann auch sehr individuell, aber fürs erste mal akzeptabel. Immerhin haben sie das nötige Handwerkszeug erhalten und können ihre nächsten fünf Themen aus anderen Bereichen bis zum Abschluss der neunten Klasse immer ein wenig besser bearbeiten. Die Arbeiten der sechs Schüler für den Bundesgeschichtswettbewerb wurden fast durchgehend mit „gut“ bewertet (eigentlich bepunktet, es gibt ja im Produktiven Lernen keine Zensuren).
Bewertet? Natürlich bewertet, Wettbewerb hin oder her. Die Präsentation selbst war dann Teil einer Art Prüfung (wir nennen es Präsentation) vor Schülern und Lehrern, die Eingang ins Zeugnis fand. Man musste schon zeigen, dass man etwas gelernt hatte. So hatten die Schüler einiges erfahren vom Deckblatt bis zur Quellenangabe, wie man den Inhalt aufarbeitet und Plakat anfertigt. Für einen, der so etwas in seinem Leben noch nie machte, war das enorm. (Zwei Schüler hatten schon Schwierigkeiten mit einem einfachen Aktenordner umzugehen oder ihre Blätter in Heftern abzuheften, mit dem Ergebnis, das ein Ordner unwissentlich zerstört wurde und die Blätter im Hefter geknickt waren.)
Fast nebenbei lernte man auch etwas über die Salzstadt Halle kennen, sah Filme über “Halle – eine Hansestadt“, machten eine virtuelle Fahrt durch Halle und Halle-Neustadt mit vielen Informationen oder sie sahen Sketche aus der Hanse- und „Salzzeit“ vom YouTube Kanal des Salzstadtclan e.V., die vom MSW-Welten Verlag produziert wurden. Wenn man so will, wurde ein Bildungspaket bestehend aus Filmen, Publikationen und Internetrecherche des MSW-Welten Verlages umfassend genutzt, von dem einen Schüler mehr und dem anderen Schüler weniger, je nach individueller Begabung.
Ein selbstformulierter Bildungsauftrag einer Schule für die Geschichte der Stadt Halle an der Saale. Wenn man jetzt etwas ganz Besonderes an Inhalt und Ausführung erwartet, ist man wohl auf den ersten Blick enttäuscht. Wenn man aber weiß, was die Schüler vorher konnten, warum sie ins Produktive Lernen kamen, kann man von einem kleinen Wunder oder besser Fortschritt sprechen. Bezeichnend dafür war auch das Lächeln einiger Schüler bei der Präsentation, als die Lehrer ihnen sagten, „Fürs erste Mal war das gute Arbeit“. Das hatten die meisten nämlich so noch nie gehört, ob von so manchem Lehrer- oder Elternteil. Tränen der Enttäuschung gab es natürlich auch, weil einiges noch nicht so klappte, aber das gehört dazu.
Ach ja, einiges geht ja auch noch an den Bundeswettbewerb Geschichte. Was will man also mehr.
Im Januar 2023 wurde dann alles gebündelt, von der Salzmagd kommentiert und zum Bundesgeschichtswettbewerb geschickt. Übrigens nahm die Heinrich-Heine-Gemeinschaftsschule mit zwei Projekten an diesem Wettbewerb teil. Das ist vielleicht das eigentliche „Wunder“.